„Wichtig ist, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen.“
Rolf Barth spricht über Lesetheater und über seine Leidenschaft für das Erzählen
Rolf Barth ist Geschichtenerzähler aus Leidenschaft. Seit annähernd zwanzig Jahren ist er mit seinem Lesetheater „Wolkenzauber“ in Deutschland unterwegs, schreibt Kinderbücher für verschiedene Verlage, realisiert Buchprojekte mit und für Kinder und fördert so die Lesefreude und den Spaß an Geschichten. Er verfügt über einen reichen Schatz an Vermittlungsmethoden und Erfahrungen, die er auch gerne in Seminaren an weitere Leseförder*innen weitergibt. Im Interview erzählt er, welche Ansätze und Ziele er in seinen vielfältigen Projekten verfolgt und was die Arbeit mit den Kindern über die vielen Jahre besonders macht.
Redaktion: Lieber Herr Barth, Sie sind seit vielen Jahren Kinderbuchautor, Theatermacher, Lese- und Vorleseförderer. Wie sind Sie zur Leseförderung gekommen und was sind die Ziele ihrer Arbeit mit den Kindern?
R. Barth: Als Kind und Jugendlicher gehörte ich zu den notorischen Nichtlesern. Buchstaben und Geschichten waren mir fremd, die Realität draußen schien mir interessanter. Irgendwann habe ich registriert: Wer liest, kennt Geschichten! Wer Geschichten kennt, kann sie erzählen – und wer Geschichten erzählen kann, gilt als cool. Egal ob Mädchen oder Junge, ihnen hört man zu, sie haben offensichtlich den besseren Durchblick. Das imponierte mir und ich begann mit dem Lesen. Ich lernte Typen kennen wie Huckleberry Finn, Tom Sawyer und David Copperfield, die auf clevere Weise ihr Leben meistern, gegen alle Widerstände, obwohl sie nicht mit goldenem Löffel im Mund geboren wurden. Aus dem Buchverweigerer entwickelte sich allmählich ein leidenschaftlicher Leser, der trotz allem nicht zum Stubenhocker wurde. Mit diesen Erfahrungen wollte ich irgendwann möglichst viele Kinder für das Vorlesen, Lesen und die Vielfalt von Büchern begeistern, sowohl als Autor als auch als Vorleser und Erzähler mit meinem mobilen „Lesetheater Wolkenzauber“. Ziele meiner Arbeit mit Kindern sind – bei aller Akzeptanz des Digitalen –:
- Ihnen eine altersgemäße Alternative zu bieten zu blinkenden Handyspielen, YouTube-Videos, Streamingdiensten und allzeit aufpoppenden WhatsApp- oder Messenger Nachrichten.
- Gemeinsam zu erleben, welch tiefe Emotionen, Visionen, Kraft, Humor, Mut, Zuversicht und Klugheit Bücher hervorbringen – gelesen und vorgelesen!
- Kopfüber mit ihnen einzutauchen in universelle Geschichten und unbekannte Welten, die so komplett anders sind als das, was sie alltäglich erleben.
- Sie immer wieder zu verblüffen mit unbekannten Welten, ungewöhnlichen Charakteren und deren Verhaltensweisen, Vorlieben und spezifischen Sichtweisen auf die Welt.
- Das Kennenlernen vielfältiger Varianten menschlichen Zusammenlebens ebenso wie überraschende Auswege aus scheinbar unlösbaren Konflikten.
Dabei gilt für mich immer, Kindern zuzuhören, sie ernst zunehmen mit ihren vitalen Wünschen und Bedürfnissen, aber auch ihrer Not, Einsamkeit und dem Gefühl des Ausgeschlossenseins zu begegnen.
Redaktion: Sie sind seit vielen Jahren mit dem Lesetheater „Wolkenzauber“ in Deutschland unterwegs und nehmen die Kinder auf eine Reise in die Welt der Bücher mit. Was ermöglicht der theaterpädagogische Ansatz für die Vermittlung der Bücher?
R. Barth: Bei meinen Lesungen versuche ich, neben klassischem Vorlesen, Buchstaben und Illustrationen für die Kinder lebendig und nachvollziehbar zu machen. Ich „verschwinde“ kurz in dem Buch und tauche „livehaftig“ als Figur wieder auf. Gerne übernehme ich auch den Part mehrerer Figuren, die gerade etwas miteinander auszufechten haben. Diese kleinen, eingeschobenen Spielsequenzen während des Vorlesens erleichtern Kindern das Verständnis für die Figuren und ihre Handlungsweisen – Zuhören wird durch zusätzliches Agieren mittels Mimik und Gestik erweitert. Nicht zuletzt erhöht es signifikant den Unterhaltungswert und fördert die Aufmerksamkeit der Kinder. Kinderbücher mit vielen Dialogen unterstützen diese Art der Präsentation. Sie geben den Figuren eine eigene Stimme. Kindern bleibt dabei immer noch genügend Raum, eigene Vorstellungen der Geschichte sowie der handelnden Figuren zu entwickeln – im Gegensatz beispielsweise zum Fernsehen, das eine komplette Interpretation der Geschichte in Bild und Ton liefert. Dadurch werden eigene Vorstellungswelten eingeschränkt, wenn nicht sogar blockiert.
Redaktion: Durch ihre vielfältigen Projekte verfügen Sie über einen großen Erfahrungsschatz an Methoden, die bei den Kindern gut ankommen. Haben sich diese über die Jahre verändert oder lassen sich die Kinder von heute immer noch mit den gleichen Dingen begeistern wie vor 20 Jahren?
R. Barth: Grundsätzlich ja! Kinder liebten Geschichten vor 20 Jahren genauso wie heute und garantiert auch für mindestens weitere 20 Jahre. Dafür sorgen die Klassiker von Astrid Lindgren, Eric Carle, Otfried Preußler, Janosch und Co. und ebenso aktuelle Geschichten, die auf humorvolle Weise den Lebensalltag der Kinder widerspiegeln. Komplett verändert hat sich allerdings die Vermittlung von Geschichten, speziell bei Kindern, die bereits mit Smartphone und digitalen Welten in Kontakt sind. Die analogen Zeiten, in denen Vorlesen noch nahezu konkurrenzlos war, sind vorbei. Die Welt ist schneller, lauter und komplexer geworden. Dementsprechend hat sich das Rezeptionsverhalten der Kinder grundlegend verändert.
Will man sie heute und auch zukünftig für das Vorlesen gewinnen, braucht es vitalere Methoden der Präsentation.
Ich setze mein stimmliches, mimisches und gestisches Repertoire ein: gurre, hauche, flüstere, wispere, krächze, laut und leise, sanft und dominant. Ich lasse mein Gesicht tanzen und verwandele meine Arme in Flügel oder wogende Wellen. Zu Hause kann man die Kinderzimmer in einen orientalischen Basar, eine geheimnisvolle Räuberhöhle oder ein Piratenschiff auf hoher See verwandeln. Dabei ist alles möglich und erlaubt, sofern es der Vermittlung der Geschichte dient und Kommunikation ermöglicht. Dafür braucht man weder Schauspieler*in, Clown*in oder Entertainer*in zu sein: Beim Vorlesen für Kinder geht es nicht um Perfektion, vielmehr um lebendige Präsenz, Respekt, Nähe und Zuwendung. Es gilt, eine ganz eigene, unverwechselbare Art des Vorlesens zu entdecken und zu entwickeln.
Redaktion: Ihre Arbeit ist von Ihrer Erzählkunst und Ihrem Einfühlungsvermögen geprägt. Was ist im Dialog mit den Kindern besonders wichtig und wie schaffen Sie in Ihrer Arbeit Zugänge zur kindlichen Lebenswelt?
R. Barth: Wichtig ist, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen! Bei meinen Lesungen begrüße ich die Kinder bereits vor der Tür wie alte Bekannte, registriere ihre neue Brille, ihren schönen Pullover und vor allem, wie sehr sie gewachsen sind. Vor der eigentlichen Lesung besuche ich die Kinder in ihren Spielräumen bzw. in ihren Klassenzimmern und interessiere mich für das, was sie gerade umtreibt und beschäftigt. Dadurch verlieren die Kinder ihre mögliche Scheu, fühlen sich gesehen und akzeptiert. Gleichzeitig erfahre ich einiges von den Kindern, auf das ich mich während der Lesung immer wieder beziehen kann und bleibe damit in Kontakt mit ihrer aktuellen Lebenswelt. Der Einsatz von Humor bei dieser Kontaktaufnahme schafft zusätzliche Nähe und Akzeptanz. Neugierig gemacht auf die Lesung „pilgern“ alle gemeinsam als „Lesekarawane“ zu dem Ort, an dem die Lesung stattfindet. Dort ist bereits alles für ihren Besuch vorbereitet. Bevor die Lesung beginnt, sind alle möglichen Barrieren abgebaut, die Kinder haben Vertrauen und sind unvorbelastet gespannt, was sie nun erwartet. Und vor allem: Sind sie gesprächsbereit!
Redaktion: Welche Erfahrungen mit den Kindern sind Ihnen über die Jahre besonders im Gedächtnis geblieben?
R. Barth: Gelingt es, Kinder mit Geschichten und über die Darbietung zu begeistern und zu fesseln, sind sie die besten Zuhörer*innen, die man sich wünschen kann. Mit offenen Mündern, zitternd, bangend und freudeschlotternd hängen sie an den Lippen der Vorleser*innen. Mit jeder vorgelesenen Geschichte entzündet sich in den Köpfen und Herzen der Kinder ein Feuerwerk an Gefühlen und Stimmungen. Wie nachhaltig Lesungen sein können, erlebe ich gelegentlich, wenn junge Frauen oder Männer plötzlich mit ihren Kindern strahlend vor mir stehen, denen sie gerne zeigen möchten, was sie selbst als Kinder begeistert und fasziniert hat. Das sind berührende Momente, die zeigen, etwas nachhaltig Prägendes ist geblieben, das nun weitergetragen wird in die nächste Generation. Im Gedächtnis geblieben ist mir auch ein Kind, das mit Büchern und Vorlesen überhaupt nichts im Sinn hatte, sogar im heftigen Widerstand dagegen war. Eines Tages erreichte mich eine E-Mail, in der sich dieses Kind, inzwischen erwachsen, bedankte für die Beharrlichkeit, es seinerzeit nicht verloren gegeben zu haben für das Lesen und Vorlesen.
Redaktion: Viele Kinder bekommen zu Hause nur wenig oder gar nicht vorgelesen. Sie zeigen in ihren Lesungen häufig, dass das Geschichtenerzählen auch losgelöst vom Text funktionieren kann. Liegt darin ein Schlüssel, um Kinder aus leseferneren Familien für Geschichten, Sprache und Schrift zu begeistern?
R. Barth: In sogenannten lesefernen Familien existiert vielfach eine Skepsis gegenüber Büchern. Meist liegt das daran, dass bisher wenig Berührung mit Büchern oder Vorlesen stattfand, sowohl bei den Kindern als auch bei deren Eltern und Großeltern. Wie kann man solche Kinder dennoch an Bücher und Geschichten heranführen? Ich mache einen kleinen Umweg und verzichte zunächst auf Bücher: Ich erzähle! Erzählen funktioniert ganz ohne Buch und andere Hilfsmittel: spontan und direkt, zu jeder Zeit und an jedem beliebigen Ort. Falls Vorleser*innen noch keinerlei Erfahrung im Umgang mit freiem Erzählen haben, beginnt man mit einer Geschichte, die man selbst erlebt hat. Ein Thema, zu dem man sicher spontan etwas erzählen kann, sind Erlebnisse aus der eigenen Kindheit.
Kinder finden es faszinierend zu hören, dass sich Erwachsene früher als Kinder mit ähnlichen Freuden und Probleme auseinandersetzen mussten wie sie heute.
Anschließend lasse ich die Kinder erzählen. Sie sind geborene Geschichtenerzähler*innen. Haben sie etwas auf dem Herzen, erzählen sie drauf los, ohne Punkt und Komma, ohne roten Faden, aber mit viel Emotion – und noch ungetrübt vom moralischen Regelkanon der Erwachsenen. Es lohnt sich, diesem anarchischen Erzählinstinkt breiten Entfaltungsspielraum zu geben. Irgendwann führe ich ein Buch ein, mit dem Versprechen, dass darin ähnlich tolle Geschichten versteckt sind wie jene, die die Kinder in letzter Zeit gehört und gemocht haben. Eine Grundlage ist geschaffen!
Redaktion: Welche Methode des Geschichtenerzählens lässt sich ganz einfach in den Alltag integrieren?
R. Barth: Bitten Sie die Kinder einen Gegenstand, den sie besonders lieben und der eine besondere Bedeutung für sie besitzt, mit in die Kita oder Schule zu bringen und ihn den anderen Kindern vorzustellen. Kuscheltiere sind dabei ebenso willkommen wie das reich verzierte Schmuckkästchen der Zahnfee für ausgefallene Milchzähne. Gerät der kindliche Erzählfluss ins Stocken, unterstützen Sie die Kinder mit gezielten unterstützenden Nachfragen: Woher bzw. von wem hast du diesen Gegenstand? Verbindest du eine besondere Geschichte mit ihm? Was ist für dich das Besondere an diesem Gegenstand? Schaust oder fasst du deinen Lieblingsgegenstand gerne an? Steht er im Regal oder ist er dein Begleiter und Spielgefährte? Die Kinder sind bei der Auswahl des Gegenstands und der Gestaltung der Vorstellung völlig frei. Reale Begebenheiten sind ebenso willkommen wie ausgedachte Geschichten.
Kinder lieben Rituale – privat, aber auch in Kita und Schule!
Verabreden Sie sich mit den Kindern zu einer „Blauen Stunde“ – immer zur gleichen Zeit, rund um den Wohnzimmertisch, auf dem Sofa, dem Teppich im Kinderzimmer, im Baumhaus, überall dort, wo es ruhig und gemütlich ist. Es gibt warmen oder kalten Kakao und einen Teller mit frischem geschnittenen Obst. Sprechen Sie mit dem Kind über den Tag, was es erlebt, belastet oder erfreut hat und ermöglichen Sie ihm Vorfreude auf das, was der angebrochene Tag noch zu bieten hat. Vielleicht liegen ein paar kleinformatige Bücher zur Auswahl bereit: kurze, humorvolle Geschichten oder Gedichte, die Sie sich gegen Ende der „blaue Stunde“ gegenseitig vorlesen. Manchmal kann die „blaue Stunde“ auch einfach „miteinander schweigen“ bedeuten.
Redaktion: Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Leseförderung?
R. Barth: Ich wünsche mir gute Bedingungen und Strukturen für Autor*innen sowie engagierte Verlage, damit immer wieder neue Geschichten und Projekte entstehen können, die unmittelbar anknüpfen an die Wünsche und Bedürfnisse heutiger Kinder und die ihnen helfen, sich in einer zunehmend komplexer werdenden Welt zurechtfinden, sie stark und zuversichtlich machen und nicht zuletzt ihre Neugier und Lust auf das Leben unterstützen und fördern. Außerdem wünsche ich mir engagierte, offene, lese- und vorlesefreudige, weltinteressierte Erwachsene mit blühender Fantasie und Humor, die sich zum besseren Verständnis immer wieder auch das „Kindsein“ erlauben. Erwachsene, die sich als Unterstützer*innen, Förderer*innen, Tröster*innen und Verteidiger*innen der Kinder begreifen. Letztendlich ein anhaltendes Engagement und den unbedingten Glauben an das Überleben des Buches! Und weniger Angst vor KI – Nähe, Empathie, Lachen und Weinen, das kann nur ein Mensch!
Zur Person:
Rolf Barth, gelernter Bankkaufmann, studierte Theater- und Filmwissenschaft, Germanistik und Politologie. Es folgten viele Jahre als Dozent an der FU Berlin, der Johannes-Gutenberg Universität Mainz und der Ruhr-Universität Bochum. Mehr als zwanzig Jahre war er Prinzipal eines Zauber-Mitmach-Theaters für Kinder in Berlin: Addis Zaubärbühne. Parallel dazu arbeitet er als freier Rundfunkjournalist und Theaterautor. Seit 1995 arbeitet er als Konzept- und Drehbuchautor sowie als dramaturgischer Berater für das Fernsehen. 2006 gründete er den Kinderbuchverlag Traumsalon edition, für den er seitdem regelmäßig publiziert. Seit 2014 arbeitet er auch für den Carlsen Verlag, Hamburg, seit 2017 auch für den Hanser Verlag, München. Als Herr Schreiberling ist er mit seinem animativen Lesetheater „Wolkenzauber“ im gesamten deutschsprachigen Raum unterwegs. Im September 2018 erschien sein erstes Buch beim Hanser Verlag, München, mit dem Titel „Mein Andersopa“. Im Jahr 2018 reaktivierte Rolf Barth die 1922 gegründete Diesterweg-Hochschule e. V. , Berlin. Zuletzt erschien sein Buch „Bitte noch eine Geschichte! Tipps zum Vorlesen und Erzählen mit Kindern.“ bei Diesterweg edition.